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Buchmesse 2025. Inspirationen einer ostdeutschen Leserin.





Mitteldeutschlands versammelte Buch- und Mangaszene hatte letztes Wochenende wieder einmal die Gelegenheit, bei der Leipziger Buchmesse in den Direktkontakt zu treten. Weil es mir eine liebgewordene Tradition ist, war ich natürlich auch vor Ort - zumindest für einen Tag, was, wie ich aufs Neue feststellen durfte, irgendwie dann doch zu wenig ist. Auf die Buchmesse habe ich in diesem Post vom letzten Jahr bereits ein Loblied gesungen, in dem ich darüber schrieb, warum die Realitätsfremde der Kulturszene nicht zum Kulturpessimismus zu verlocken braucht. Ich will deshalb versuchen, mich nicht allzu sehr zu wiederholen.


Was ist also dieses Jahr passiert?


Als Studi mit nicht gerade unendlichen finanziellen Ressourcen sowie dem Glück, noch in den Semesterferien zu sein, plante ich meine diesjährige Anreise nach Leipzig mithilfe von Regionalzügen. Dies gab mir Gelegenheit zu der Feststellung, dass bayrische Züge den sächsischen in puncto Verspätung in nichts nachstehen. Nun, ich war mit meinem Laptop ausgestattet und konnte die Zeit halbwegs produktiv nutzen. Nach einer sechseinhalbstündigen Reise, die durch einen kaputten Zug und ein kaputtes Signal zu einer zehnstündigen wurde, hatte ich die Messestadt und das Hotel Schwester (ihr Wohnheimzimmer) erreicht. Nach neun Stunden Schlaf fühlte ich mich wie der junge Morgen und freute mich auf einen Tag voller Bücher, Gratis-Sticker und Cosplays zum Bewundern.

In der Bahn zur Messe. Ich frühstückte Brötchen und vegane Mühlen-Frikadellen, während ich dem Herrn hinter mir dabei zuhörte, wie er sich über dieses "Drecksland" ärgerte, welches seiner Einschätzung nach dem eigenen Untergang entgegensehe. Die Sonne schien; es war der erste wirkliche Frühlingstag seit Längerem. Ich stieg schon am Augustusplatz um und war mir selbst dankbar für diesen Geistesblitz, als ich die Menschenmassen sah, die am Hauptbahnhof auf den nächsten Wagen der Linie 16, Messegelände, warteten. Aus dem Fenster beobachtete ich die Gesichtsausdrücke der Menschen an den Haltestellen danach, die feststellen mussten, dass die Bahn so gerappelt voll war, dass sie keine Chance auf Zustieg hatten. Vor mir ließ sich ein älteres Ehepaar den Unterschied zwischen Cosplay und Furry erklären, während meine Sitznachbarin sich mit ihrem Begleiter über Lyrikübersetzungen aus dem Hebräischen unterhielt.



Die endlosen Schlangen vor dem Eingang waren mir ein Hinweis auf die hohe Nachfrage nach Eintrittskarten, die die Besuchermenge vom letzten Jahr, der ersten Post-Covid-Messe, bei Weitem übertrumpfte. Mein erstes Messeevent hatte ich gar nicht eingeplant - eine halbe Stunde vor der ARD/ZDF-Bühne sitzen und auf meine Buchmessenbegleitung warten, die im Stau an den Parkplätzen feststeckte. Sei es wie es sei, dachte ich mir, es ist auch kein schlechter Zeitvertreib, einem Interview mit einem Buchmessenpreisträger zuzuhören. Alhierd Bacharevič hatte am Tag davor den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung bekommen, und zwar für Europas Hunde, ein Buch aus und in Belarus, geschrieben in und über Sprache(n), verboten im Land des Autors. Er sei Schriftsteller, kein Politiker, er sei wider Willen zum Widerstandsaktionist gemacht worden, sagte er auf der Bühne, aber jede Literatur als Akt der Freiheit sei eben immer auch eine politische Erscheinung. Die freie Literatur werde auf unbekannte Straßen im Leben führen, und damit ins Exil. Er stehe nur für seine Bücher. Die europäische Utopie, von der spricht er auch. Sie sei für ihn übersetzbar in die Frage nach einer neutralen Sprache: Ist es möglich, eine Sprache zu haben, in der wir alle gleich sind? Eindeutig Utopie, aber damit auch buchmessentauglich wie fast sonst nichts. Praktische Hinweise für unsere praktische politische Situation hatte er auch dabei: Verantwortung für die Zukunft heißt, sich von Tyrannei nicht einlullen zu lassen. Literatur hilft dabei, Illusionen zu brechen. Westeuropa, denke Osteuropa mit in deine europäischen Identität hinein, die Katastrophe klopfe nämlich schon an. Es fing an, in der Glashalle unter der Frühlingssonne wirklich warm zu werden.



Etwas weniger endzeitlich ging es dann nach Überwindung des Staus weiter mit der Textanthologie Ost*West*frau von Franziska Hauser und Maren Wurster, die sich am MDR-Stand darüber unterhielten, wie sie dazu kamen, männliche Autoren in ihre Textsammlung aufzunehmen. Oder aber über ihr Ziel, die unüberwindbaren Ost-West-Unterschiede im Frausein aufzuzeigen. Über die Feststellung, dass es keine "richtige" Ost- oder Westfrau gibt. Über eine ostdeutsche Praxis, Westfrauen als Hausfrauen abzustempeln. Über ein Gefühl der Westfrauen, nicht wichtig genug zu sein für den Feminismus und deswegen nicht literarisch zu schreiben. Über ein ostdeutsch-weibliches Selbstwertgefühl, was sich aus immerhin offiziell unterstützter Gleichberechtigung und finanzieller Unabhängigkeit speiste. Über Zweifel der teilnehmenden Autorinnen, die die anfängliche Begeisterung ablösten: "Ich bin doch gar nicht typisch x-deutsch, wie soll ich da darüber schreiben?" Über den Kampfmodus ostdeutscher Frauen, ernstgenommen werden zu wollen. Über Prägung, über das Aufwachsen mit dem weiblichen Elternteil als Hausfrau und Mutter, und über die westdeutsche Unbedarftheit, ohne den einen ganz bestimmten Bruch in der Biografie zu sein. Über das Nicht-Leben-Können in der aktuellen Realität des Kapitalismus, in der Instabilität, Unsicherheit, Familie und Mutterschaft sich gegenüberstehen. Das Publikum: älter, weiblich gelesen, und ostdeutsch oder westdeutsch? Keine Ahnung.



Forum International/Übersetzungszentrum, 13 Uhr, wir gestärkt durch Knoblauchbrot und leicht überteuerte Pommes. Auf meiner Merkliste hatten sich so einige Events mit Ostdeutschland-Bezug wiedergefunden, wie augenscheinlich auch auf der vieler anderer, Literatur über dieses Thema hat Konjunktur. Auch das ist ein Grund für die Bedeutung der größten deutschen Buchmesse gerade hier: ostdeutsche Selbstreflexion, Ost-West-Verständigung. Dieses Mal ging es allerdings um ein Thema, was sonst manchmal untergeht - der Blick aus dem Ausland. Zwei Übersetzerinnen, Merete Franz (Deutsch-Norwegisch, übersetzte u.a. Gittersee von Charlotte Gneuß) und Isabel Fargo Cole (Deutsch-Englisch, übersetzte u.a. Wolfgang Hilbig). Im Ausland gibt es geradezu einen Hype über ostdeutsche Literatur, zeitgenössische Autor*innen kommen besonders gut weg. Norwegen interessiere sich für das Leben in autoritären Regimen und die Zeit danach, die USA für die historischen Umbrüche, für die leeren Industriehallen, die auch an den Great Lakes stehen, für die Utopie und Realität des marxistisch-leninistischen Sozialismus, für das Politische, was zum Persönlichen wird, für die Verschwiegenheit zwischen Generationen. Die literarisch interessierten USA finden ein gespiegeltes Bild ihrer Selbst - ausgerechnet in Ostdeutschland. Massenüberwachung, Meinungsfreiheit, George W. Bush und Edward Snowden hätten diese Themen groß gemacht. Ich lernte, dass in Norwegen jedes neuveröffentlichte Buch staatlich subventioniert in einer Mindestauflage für Bibliotheken aufgekauft wird, und bin neidisch. Die US-amerikanische Übersetzerin lässt die Wendung "aus der Kohle" fallen. Letzte Frage: Dürfen junge Leute über die DDR schreiben, die sie nicht selbst erlebt haben? Eindeutiges Ja. Junge Autorinnen hätten Ostdeutschland für Norwegen zugänglich gemacht. Es sei wichtig, dass die Geschichte immer wieder erzählt werde. Zeitlicher Abstand führe zu einem differenzierteren Blick. Ich hoffe, dass das stimmt.


Wir bewunderten Menschen im Cosplay, wurden von Kindern mit selbstgebastelten Superhelden-Stirndekorationen umgerannt, quetschten uns durch Schülergruppen. Bunte Gegenstücke zu den sich selbst zu ernstnehmenden Intellektuellen, die es hin und wieder doch auf eine Bühne schaffen, oder die im Publikum sitzen und sich Notizen machen (dies ist explizit selbstkritisch gemeint). Die Buchmesse ist eine Blase, ich treffe dort die Leute, die ich schon kenne. Aber warum auch nicht?



Abends am Bahnhof, ICE 1605, aktuell noch pünktlich. Ich unterhielt mich mit dem Obdachlosen, der am anderen Ende meiner Bank saß, über die kalten Nächte. Wir unterhielten uns weniger, als dass er mir Dinge erzählte, episodisch, erratisch, literarisch? Hin und wieder ein wenig übergriffig ("Du bist aber auch eine Hübsche"), aber was soll frau machen. Wo ich denn hinführe (München), und ob mein Freund mich vom Bahnhof abholen würde (tat er), und die Schuhe, die habe er eine Nummer zu groß, aber allemal besser als zu klein, und von den Drogen sei er weg. Die Mädchen auf der anderen Bankseite ignorierten ihn, als er ihnen einen Guten Appetit wünschte; ich kann es ihn nicht ganz verdenken, ein Tag unter Büchern macht, wenn auch nichts anderes, dann immerhin müde. Auf dem Heimweg blätterte ich in meinem SZ-Literaturspecial zur Leipziger Buchmesse.


Hanna


(Und weil man natürlich auch an reflektierten Wessi-Meinungen zu dieser Buchmesse nicht sparen sollte und mir dieser Artikel hier in die Timeline gespült wurde: Nein, nur weil die Leipziger Buchmesse in Ostdeutschland stattfindet, ist sie noch lange nicht dazu verpflichtet, "Debatten mit antagonistischen Positionen" zu führen, i.e., rechtsextremen Verlagen einen Raum zur Verbreitung rechtsextremer Positionen zu gewähren. Gerade weil die Buchmesse im Osten stattfindet, ist sie vielleicht umso mehr dazu verpflichtet, rote Linien zu ziehen. Wenn Sie mit Rechtsextremen reden wollen, lieber Carsten Otte, gehen Sie doch lieber nach Frankfurt, und zwar das am Main.)




Buchempfehlungen, die ich mitgenommen habe:


Oliver Lovrenski - bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann 

Franziska Hauser & Maren Wurster - Ost*West*frau

Alhierd Bacharevič - Europas Hunde

Wolfgang Hilbig - "Ich"

Charlotte Gneuß - Gittersee (schon gelesen, aber egal)

Anne Rabe - Die Möglichkeit von Glück

Ada Borkenhagen - Bin ich schön genug? Schönheitswahn und Body Modification

Cordt Schnibben - Lila Eule

Sally Lisa Starken - Zu Besuch am rechten Rand

Andreas Speit - Autoritäre Rebellion

Roger de Weck - Das Prinzip Trotzdem

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