(N)Ostalgie revisited: DDR-Sehnsucht im Kapitalismus
- Hanna Müller
- 11. Juli 2024
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Apr.
Diese Woche gibt es einen kleinen Geburtstagspost. Nicht für den Blog, der ist immerhin schon über ein Jahr alt (!), sondern für uns, denn Weronika hat am Freitag und Hanna am Sonntag Geburtstag. Wir haben uns anscheinend beide dazu entschieden, älter zu werden. Kann man machen, muss man aber nicht. Zu dieser Entscheidung können wir nur sagen: Herzlichen Glückwunsch und auf ein neues Jahr voller guter Textinspirationen und Ostdeutschland-Erkenntnisse!
DISCLAIMER: Dieser Text enthält explizite politische Meinungen. Stimmt mir zu oder trainiert Euren Widerspruchsreflex in einer konstruktiven Debatte.
Montagmorgen, 6.50 Uhr, Trilex nach Dresden, ungewöhnlich leer, aber es sind ja Ferien. Meine Kopfhörer sind nur zu 30 Prozent geladen und ich habe noch vier Stunden Zug vor mir, das heißt, meine frühmorgendliche Unterhaltung ziehe ich zunächst aus dem Gespräch der beiden unfreiwilligen Zugnachbarn vor mir. Normalerweise höre ich in der Öffentlichkeit den Gesprächen anderer eher passiv zu, dieses Mal konnte ich es allerdings nicht lassen. Es ging - denn wir sind immer noch im Osten - um die DDR. Ich habe manchmal das Gefühl, Menschen aus dem Westen unterschätzen immer noch, wie präsent diese drei Buchstaben im täglichen Leben von höhersemestrigen Ostdeutschen nach wie vor sind. Es ist eine definierende Osterfahrung, diese Existenz in einer Gesellschaft, die mit einer so finalen und endgültigen Damals-vs.-Heute-Zäsur in ihrer eigenen Vergangenheit klarkommen muss. "Zu DDR-Zeiten" oder "Nach der Wende" sind Wendungen, die im durchschnittlichen ostdeutschen Leben sehr regelmäßig vorkommen. Als ich letztens auf dem Weg nach Görlitz selbst von meiner Zugnachbarin in ein Gespräch verwickelt wurde, fragte sie mich nach Zeiss in Jena, weil das doch eine der Firmen gewesen sei, die nicht in den Westen abgewandert war. Sie erzählte von ihrer Kur, die sie "drüben im Westen" verbracht hätte, und äußerte sich verwundert darüber, dass die Züge im Westen gar nicht so viel besser gewesen seien als die im Osten.
Der Osten ist mehr als seine Vergangenheit, aber er kann sie - wenig überraschend - auch nicht abschütteln, im Gegenteil. Die DDR ist allgegenwärtig, in der Bewunderung von Trabis, in der Baugeschichte von Häusern, in Familien und Freundschaften, auf Werbeplakaten. Oft genug ist sie auch eine Art Spiegelbild, ein Vergleichsmaßstab für alles, was früher entweder besser war oder sich überhaupt gar nicht erst verbessert hat, seit es sie nicht mehr gibt. "DDR-Relativierung" rufen da manche, die wenig Erfahrung mit dem Osten und insbesondere mit seiner älteren Generation haben. Das ist nicht ganz zutreffend, wenn auch in bestimmten Kontexten natürlich auch nicht ganz falsch. Die DDR-Relativierung gibt es, sie ist ein Problem, wenn sich Menschen weigern, das Unrecht der Diktatur anzuerkennen. Aber die DDR war nicht nur Diktatur, sondern auch eine Lebensrealität, und in der Anerkennung dieser Tatsache zeigt sich dann eben wieder der Unterschied zwischen Osten und Westen heute. Es ist nicht sofort Relativierung, wenn Menschen ihre Erfahrungen verarbeiten und vergleichen, schon gar nicht, wenn sie das im Kontext eines kompletten Systemwechsels tun. Und es ist genauso wenig eine Relativierung, wenn eine gemeinsam erlebte Vergangenheit zum Ursprung eines Wir-Gefühls wird - das ist vollkommen menschlich.
Was ist dann aber DDR-Nostalgie, und zwar abseits von Mopeds und (westdeutsch produzierten) Filmen? Ist sie auch schon eine Relativierung? DDR-Nostalgie kann das sein, was ich in dem Gespräch im Zug überhören konnte. Ein Wunsch nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, nach Einfachheit, nach Frauen, die samstagnachmittags den Kaffeetisch eindecken, nach Feiern und Hilfsbereitschaft in der Nachbarschaft, nach flachen Hierarchien mit den Vorgesetzten, nach funktionierenden und erschwinglichen Zugverbindungen, nach kleinen und überschaubaren Strukturen. Das ist auch der Wunsch nach einem funktionierenden Gesundheitssystem und einem weniger geldorientierten Alltag. Das ist die Sehnsucht nach einer Zeit, in der angeblich alles einfacher und verständlicher war und Beziehungen noch intakt waren. Das ist der vermutete Gegenpol zur Einsamkeitsepidemie, zu den fehlenden Third Places (gemeinschaftlich nutzbaren Räumen, die Menschen zusammenbringen und für Gemeinschaftsgefühl sorgen). Das ist ein Wunsch nach einem klareren Verständnis der eigenen Bedeutung und der eigenen Rolle in einem System, im Kontrast zu dem gefühlten Identitätsverlust von heute, wo Identitäten flexibler, diverser und gleichberechtigter nebeneinanderstehen. Das klassische .
Die westdeutsche Antwort auf diese Emotionen geht oft in diese Richtung: . Darauf aufbauend wird die Ostalgie wiederum genutzt, um gegen den Sozialismus zurückzuschlagen. Ostalgie ist rückwärtsgerichtet, rückständig und entbehrt jeder realpolitischen Grundlage, denn das System hat nicht funktioniert, die DDR war ein Unrechtsstaat und die Leute wandten sich letztendlich dagegen. Alle, die heute Ostalgie verspüren, sind dementsprechend naiv, geschichtsrevisonistisch und wissen es einfach nicht besser.
Für mich ist DDR-Nostalgie aus einer jungen, ostdeutschen Perspektive heraus aus zwei ganz anderen Gründen problematisch. Sie ist ein Phänomen auf zwei Ebenen: einerseits ist sie eine Wiederbelebung einer Fiktion, ein Versuch, die eigene Vergangenheit so zu idealisieren, dass sie gegen die Gegenwart instrumentalisiert werden kann, und zwar immer öfter gegen die Rechte von Einzelnen und gesellschaftlichen Minderheiten, ihre Identitäten egal welcher Art heute auszuleben. Das gute alte Gestern wird heraufbeschworen, und mit ihm die Illusion einer Zeit, in der war, frei von erdachter Andershaftigkeit und Normverletzungen. Die Frauen um den Kaffeetisch aus dem Gespräch im Zug sind dafür das ideale Beispiel. Nostalgie und Vergangenheitssehnsucht ist kein ostdeutsches Phänomen, sondern etwas, was es in jeder Gesellschaft geben kann. Im Osten fällt diese Vergangenheit eben mit der DDR-Vergangenheit zusammen - voilà, Nostalgie wird zu Ostalgie. Diese Zeit, diese mystische, ideale Vergangenheit, in der noch jeder wusste, wer er oder sie war und wo er oder sie hingehörte, gab es aber natürlich nie irgendwo wirklich, denn Gesellschaften sind nie so homogen, wie sie gerne dargestellt werden. Daran ändert auch eine Diktatur recht wenig. Außerdem - besonders im Osten ist diese Art von Nostalgie selbstironisch und hypokritisch: Ihr wollt anderen die Selbstbestimmung nehmen, auf die ihr selbst ein Recht haben wolltet, nur, damit für euch wieder alles "sinnvoll" erscheint? Eine Linie zwischen euch und anderen in den Sand ziehen, wo es eigentlich keine gibt?
Die zweite Ebene der Ostalgie ist die handfestere. Denn Vergangenheitsorientierung ist nur zu oft eine Strategie, um mit realen Veränderungen umzugehen. Ich glaube es den älteren ostdeutschen Generationen zur zu gerne, wenn sie darüber sprechen, dass es "früher" mehr Gemeinschaft gab, mehr Hilfsbereitschaft, dass das Gesundheitssystem besser war, dass die Klassenhierarchie und das Klassenbewusstsein weniger ausgeprägt und man generell auf Augenhöhe unterwegs war, dass es weniger Obsession mit Geld, Konsum und Status gab, dass Produkte länger halten, weil es kein Neukaufprinzip gab, das Kindergärten und Altersheime günstiger waren. Unser System hat alles durchökonomisiert, öffentliche Infrastrukturen und Grundversorgungen müssen Profit abwerfen und die vielbesungene Schere geht immer weiter auf, während Menschen vereinsamen und den Kontakt zu ihrer Umwelt verlieren (oder ihn freiwillig minimieren), vom Frühstück in der Einzelwohnung über den Arbeitsweg im PKW oder das HomeOffice am Küchentisch bis zum Einkauf an Selbstbedienungskassen und Abend vor dem Fernseher. Ich glaube nicht, dass es ausschließlich Einbildung ist, wenn Menschen beklagen, dass das "früher" in der DDR vielleicht anders war, dass das Gemeinwesen stärker ausgeprägt und die Gemeinschaft stärker wertgeschätzt wurde, und ich weigere mich, diesen vergangenheitsseligen Emotionen einzig und allein mit dem Aufschrei "DDR-Relativierung!" zu begegnen.
Was mich allerdings etwas wütend macht, und hier bin ich jetzt nicht nur ostdeutsch, sondern explizit Anfang zwanzig, ist Folgendes. Wenn man über Nachwendedeutschland spricht, kommt man nicht an Aussagen wie "Das ist nicht das, was wir wollten" vorbei. Aber was wolltet ihr denn, frage ich dann den Osten? Grundrechte, ja. Reisefreiheit, ja. Ein Ende der Bespitzelung, auch ja. Gewählt wurden am Ende was? Konsum und die D-Mark, mit dem Nebeneffekt Demokratie. Es mag verkürzt sein, es beachtet natürlich auch nicht den vollständigen historischen Kontext einer Diktatur in ihren letzten Zügen, die nach einer erfolgreichen Revolution vom Wiedererstarken abgehalten werden soll. Aber letzten Endes bleibt es dabei: Ihr wolltet Marktwirtschaft, hier ist sie nun. Ein System des Meistbietenden, ein System, in dem Gesellschaft nur relevant ist, wenn man an ihr Geld verdienen kann, ein System, in dem Wachstum über allem anderen steht. Ein System, in dem es Milliardäre gibt und Leute, die ihnen ihren Reichtum unter allen Umständen weiterhin ermöglichen wollen, Leute, die alles daran setzen, dass eine Version der Realität undenkbar erscheint, in der es eine andere Verteilung gibt. Und ihr wolltet dieses System, weil ihr Konsum wolltet, ihr wolltet "wie im Westen" einkaufen, und jetzt stellt ihr fest, dass der Westen jahrzehntelang genau das mit euch gemacht hat, was zu erwarten war, weil Kapitalismus nun mal genau so funktioniert: der mit dem größten Geldbeutel hat letzten Endes doch das letzte Wort. Im Krankenhaus, auf der Schiene, im Bildungssystem. Und oh, das große Erwachen, das Schlaraffenland ist doch keins und im Garten Eden gab es vielleicht deswegen keine Bananen, weil Bananen nicht im Garten Eden wachsen. Aber wer wird beschuldigt? Wahlweise "die da oben", oder vielleicht auch die ganz unten, die noch weniger haben als man selbst oder die man fälschlicherweise für Konkurrenz in der Nahrungskette hält. Dass die Werbespots im Westfernsehen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen und man vielleicht selbst darauf hineingefallen ist - wo bleibt da die Selbsterkenntnis?
Ich will kein "Das habt ihr jetzt davon"-Argument formulieren, das bringt niemanden weiter und ist auch unfair gegenüber vielen Realitäten, die ich selbst nie miterleben musste. Aber ich will etwas sagen gegen das kapitalistische Anspruchsdenken, das mir im Osten ehrlich gesagt immer noch viel unangenehmer ist als im Westen. Dieser Gedanke, man hätte ein Recht auf Geld, ein Recht darauf, mehr als andere zu haben. Ein Recht auf Kleiderschränke voller (Billig)klamotten, ein Recht auf private Krankenkassenversorgung, die besser ist als die gesetzliche, ein Recht auf sogenannten gesellschaftlichen Aufstieg. Wer aufsteigt, lässt auch immer Menschen hinter sich zurück. Wer wundert sich da noch über fehlenden Zusammenhalt und Gemeinschaft? , so lautet ein Songtitel der Wise Guys, und es gibt für dich vielleicht keinen Zusammenhalt, wenn du nichts zu diesem beiträgst. Und ich kann es nicht mehr hören, diese Ostalgie, dieses Lamentieren von Konsequenzen, die eindeutig und glasklar aus Wirtschaftssystem und Profitoptimierung resultieren, . Und das aus einer ostdeutschen Position heraus, in der es nach wie vor die Regel ist, dass man sich daran misst, wie viel weniger Geld man im Vergleich zum Westen hat. Wer die Annehmlichkeiten der Marktwirtschaft will, muss die Suppe auch dementsprechend auslöffeln, und das richtet sich auch und vor allem an all die (n)ostalgischen Ostdeutschen von heute. Es ist nicht so, dass es keine Alternativen gegeben hätte zu öffentlicher Unterfinanzierung, prekären Lebensverhältnissen der untersten Einkommensschicht, Kinder- und Altersarmut, und die Frage, ob Systemänderung möglich sein könnte, bleibt 2024 unter anderem deswegen unbeantwortet, weil sie 1990 gar nicht erst gestellt wurde. Ich bin froh, dass es eine Wiedervereinigung gab (was auch die einzige Meinung ist, die ich mir als Ostdeutsche öffentlich wirklich leisten kann). Ich bin froh, dass wir eine schützenswerte und schützende Demokratie haben. Ich mag sie sehr gern. Aber (und hier wird’s persönlich und vielleicht unbequem) Demokratie und Kapitalismus sind nur synonym, wenn man sie zu Synonymen macht. Ich halte es da eher mit George Orwell.
Als junge Ostdeutsche habe ich es satt, dass mittlerweile von der älteren Ost-Generation nur zu oft eine idealisierte Vergangenheit des Ostens heraufbeschworen wird, während man sich tagtäglich und bewusst dagegen entscheidet, etwas für die Idealisierung der Gegenwart zu tun. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kommt nicht aus dem Nichts, politische Veränderung ebenso wenig. Sie fangen beim Stimmrecht an und setzen sich fort in einem Engagement für, nicht gegen andere.Grundlage dieses viel beschworenen Zusammenhalts ist eine vielleicht neu zu erlernende Mentalität, die sich „Auch-mal-an-andere-denken“ nennt. Und manchmal heißt "Auch-mal-an-andere-denken", dass man aufhört, politisch an die zu denken, an die jetzt schon viel zu viel gedacht wird. Und dass man vielleicht anfängt, Gesellschaft generell anders zu interpretieren: Wer hat welche Rechte? Welche Rechte sind es wert, für sie einzustehen und sie zu bewahren? Und welche Rechte, die von welchen Menschen aktuell eingefordert werden, stehen unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt im Weg? Die Ostdeutschen haben sich ihre Demokratie mit ihren Rechten hart erkämpft. Vielleicht wäre es an der Zeit, ein paar Gedanken konsequent zu Ende zu denken und die Feststellung zu verinnerlichen, dass die Rechte jedes Einzelnen da aufhören, wo die jedes anderen anfangen.
Denkt vielleicht daran, wenn ihr dieses oder nächstes Jahr wählen geht.
Hanna
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