top of page

Zivilcourage. Raus aus den Blasen!

Aktualisiert: 3. Apr.

Zivilcourage. Raus aus den Blasen!


In den letzten Wochen und Monaten fanden immer wieder Demonstrationen gegen Rechtsextremismus statt, bundesweit, in fast jeder größeren Stadt und sicherlich auch in vielen kleineren Städten. In manchen dieser Städte war es schwieriger als in anderen, eine solche Demonstration durchzuführen. Denn: „Nazis raus ruft sich leichter dort wo es keine Nazis gibt“, beziehungsweise – dort, wo sie nicht eine von sich überzeugte, öffentlichkeitswirksame Gruppe bilden. Ich finde es wichtig und richtig, dass diese Demonstrationen stattfinden und habe mich selbst auch an einigen beteiligt. Als ich jedoch neulich mit einigen meiner Freund*innen darüber sprach, teilten sich die Überzeugungen in zwei Lager. Die einen bemängelten, dass viele (mich eingeschlossen) nicht oft genug an Demonstrationen teilnehmen würden und die Öffentlichkeit noch deutlicher, noch lauter und noch aktiver werden müsste. Die anderen hingegen kritisierten, dass die Demonstrationen real keinen Einfluss auf das „wahre Leben“ hätten. Das machte mich stutzig und ich suchte das tiefere Gespräch mit meinen Freund*innen und Bekannten. Die Ergebnisse meiner anschließenden Überlegungen möchte ich zum Thema des heutigen Beitrags machen.


Haben Demonstrationen einen Einfluss auf das wahre Leben? Zweifelsohne! Man denke nur an die Friedliche Revolution in der DDR aus dem Jahr 1989. Demonstrationen, wenn auch nicht im Rahmen einer Massenbewegung!, trugen zum Fall der Mauer und zur Wende bei. In der Geschichte lassen sich viele Beispiele finden, bei denen Proteste und Demonstrationen Umbrüche und die Herbeiführung von Veränderungen unterstützten. Nach dem deutschen Grundgesetz ist die Versammlungsfreiheit gewährleistet und es ist folgerichtig, dass die Menschen von ihr Gebrauch machen. Ich bin überzeugt davon, dass Demonstrationen gegen Rechtsextremismus aus mehreren Gründen als äußerst wichtig bezeichnet werden können. Sie informieren darüber, dass eine große Anzahl von Menschen nicht mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen einverstanden ist. Sie können in gewissem Maß politischen Druck ausüben. Sie machen uns Mut, weil wir uns mit Gleichgesinnten versammeln können. Sie sind ein Zeichen und ein Werkzeug der Demokratie.


Aber…warum haben dann bestimmte meiner Freund*innen gerade diese Demonstrationen oder vielmehr die Aufforderung zum verstärkten Demonstrieren kritisiert? Weil sie eine große Disparität zwischen Demonstration und Wirklichkeit nicht nur sehen, sondern fühlen. Weil sie leider immer wieder die Erfahrung machen, dass viele Menschen zwar auf Demonstrationen gehen, sich außerhalb dieser Orte aber nicht trauen, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen oder dazu zu äußern. Ich möchte heute eine Beispiele nennen und sicherlich so manche damit verärgern, die der Meinung sind, ich (oder die Menschen, denen das, was ich gleich schildern werde, passiert ist) würde übertreiben. Diesen Personen möchte ich raten, noch einmal ganz genau darüber nachzudenken, ob sie sich auch wirklich in einer Position befinden, um darüber zu urteilen.


Ja, wir gehen gerne demonstrieren (gemeinsam mit uns gleichgesinnten Menschen). Wir reposten rassismuskritische Statements in den sozialen Medien (bei denen uns unsere eigene Bubble folgt). Wir unterhalten uns über soziale Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen (häufig innerhalb des eigenen, nicht allzu schlecht gestellten Milieus). Aber was tun wir, wenn wir unmittelbar Zeug*innen von rassistischen Beleidigungen, Mikroaggressionen oder passiv verletzenden Bemerkungen werden? Dabei handelt es sich um kleine, scheinbar "nebenbei" geschehende Handlungen und Ereignisse, von denen ich ein paar beschreiben möchte. Nach den Erfahrungsberichten meiner betroffenen Freund*innen muss ich sagen: Leider wählen wir, die wir uns als so modern, linksgrün, liberal, antifaschistisch, aufgeklärt, sensibel bezeichnen, allzu oft den einfachen Weg und ignorieren das, was wir sehen. Ein Beispiel: Gemeinsam mit einer Freundin speiste ein Freund von mir, der keine weiße Hautfarbe hat, in einem Restaurant. Die Kellnerin ignorierte ihn vollständig (obwohl er fließend deutsch spricht und mehrmals versuchte, seine eigene Bestellung aufzugeben) und sprach ausschließlich mit der Freundin. Diese unternahm nichts, um die Kellnerin auf ihr unhöfliches und rassistisches Verhalten anzusprechen, und tat sich auch im Anschluss damit schwer, den Vorfall als Rassismus einzustufen. Ein weiteres Beispiel: Besagter Freund wird als Einziger im Zugabteil geweckt und kontrolliert mit der Aussage „Vielleicht hat er kein Ticket dabei.“ Keine*r der Mitreisenden sagte etwas dazu. Seinen Namen können Menschen, die ihn seit mehreren Jahren kennen und mit denen er mehrmals wöchentlich zu tun hat, immer noch nicht aussprechen und nutzen das als Witz, weil „der Name ja unaussprechlich“ sei.

Ein mit mir befreundetes Ehepaar, das nicht aus Deutschland kommt, ist aus Thüringen nach Hessen gezogen, weil es hier massiv rassistisch beleidigt und bedroht wurde und selbst aus dem Freundes- und Bekanntenkreis bis auf wenige Ausnahmen keine Hilfe erhielt. Ihre Freund*innen organisierten eine „Dschungelparty“ und trugen dabei äußerst fragwürdige Kleidung und dekorierten die Wohnung anhand rassistischer Klischees – nannten sich gleichzeitig Antifaschist*innen und fehlten auf keiner Demonstration. Nachdem meine Freund*innen sie darauf ansprachen und sie für die Thematik sensibilisieren wollten, wurde der Kontakt abgebrochen. Auch Erfahrungen mit dem Ignoriertwerden macht eine der beiden, während der mit einem deutschen Nachnamen „gesegnete“ Ehepartner besser behandelt wird.

Wenn meine Freund*innen Anderen von ihren rassistischen Erfahrungen berichten – und zwar Menschen wie uns, die sich, wie gesagt, gerne als modern, aufgeschlossen, offen, linksgrün, antifaschistisch und sensibel bezeichnen – dann sind die Reaktionen keinesfalls immer mitfühlend und Hilfe anbietend, sondern zunächst ablehnend! „So war das bestimmt nicht gemeint“ oder „So schlimm ist das doch gar nicht“, „Jetzt übertreibst du aber ein bisschen“, „Naja, das war eben ein Nazi“, „Das hast du bestimmt falsch verstanden“, „Du hättest aber auch nicht XY tun müssen, dann wäre das nicht passiert“, schlichtweg Unverständnis und Nicht-ernst-nehmen widerfahren Menschen, die von Rassismus (und natürlich auch anderen Formen der Diskriminierung) betroffen sind. Auch unsere Kritikfähigkeit ist gering ausgeprägt: Wir ertragen es nicht, wenn uns gezeigt wird, dass wir etwas falsch gemacht haben, und es ist einfacher, die Sache umzudrehen und als Missverständnis darzustellen, als sich einzugestehen: Wir sind Teil eines rassistischen Systems, wir haben alle rassistische Denkmuster. Die Frage ist nur: Sind wir bereit dazu, diese aktiv zu hinterfragen und anzuprangern?

Auch wenn wir wirklich von einem „Missverständnis“ überzeugt sind: Es geht nicht immer nur darum, wie wir etwas meinen, sondern auch darum, wie es rüberkommt. Warum wähnen wir uns lieber im Recht, als uns einzugestehen, dass wir jemanden verletzt haben? Wenn jemand uns von einer verletzenden Erfahrung erzählt, sollten wir vor allem zuhören, anstatt direkt zu versuchen, das nach unserem Muster zu rationalisieren und zu zeigen: schau, du musst ja gar nicht verletzt sein, denn so schlimm war es nicht. Damit sprechen wir Menschen, die von Rassismus betroffen sind, die Deutungshoheit ab, die wir selbst als weiße Personen niemals besitzen können. Aber leider erklären wir anderen einfach viel zu gerne die Welt, nicht nur „unsere“ Welt, sondern auch die ihre. Das ist meiner Meinung nach falsch.

„Nicht alles ist gleich Rassismus“ – sagte die Person, die davon gar nicht betroffen sein kann.


Aber was nun? Zivilcourage. Raus aus der eigenen Blase! Es reicht nicht, auf Demonstrationen zu gehen, rassismuskritische Posts zu teilen und sich in seiner eigenen Welt mit den Problemen unserer Gesellschaft zu befassen. Das alles ist wichtig, das alles ist essenziell, und doch ist es viel zu wenig und vor allem viel weniger wirksam, wenn wir im Alltag trotzdem rassistische und diskriminierende Vorfälle ignorieren, nicht nur die offenen, sondern auch die Mikroaggressionen. In der Bahn, im Bus, in der Uni, im Supermarkt, auf der Straße, beim Sport, überall. So viele Menschen UNSERER GEMEINSAMEN GESELLSCHAFT leiden Tag für Tag unter zahlreichen Diskriminierungen. Ihnen ist nicht allein damit geholfen, dass wir auf Demos gehen und kritische Statements reposten. Solidarität und Zivilcourage sind mehr als nur das bloße Wort im wohligen Schutz der eigenen Umgebung, dort, wo es keine Nazis gibt. Und wir dürfen nicht vergessen, was eine für viele unbequeme Wahrheit ist: rassistische Verhaltensweisen sind nicht etwas, das exklusiv von Nazis verwendet wird. Wir alle tragen sie in uns. Aber wenn wir selbst den Anspruch an uns haben, uns antifaschistisch zu verhalten, dann müssen wir auch dies bei uns aufdecken, ansprechen, kritisieren und ändern. In unseren eigenen Handlungen, in unseren eigenen Reaktionen auf Erfahrungsberichte, in unserem ganzen Leben. Das ist unbequem, ja. Sicherlich stehen wir immer wieder als die Dummen da, wenn wir scheinbar „übertreiben“ und auf diskriminierende Verhaltensweisen hinweisen. Aber ernsthaft? Das ist viel, viel weniger unbequem, als diese Diskriminierungen zu erfahren. Unser Beitrag zur Gesellschaft muss darin bestehen, uns konsequent gegen diese Verhaltensweisen aufzulehnen und laut zu protestieren – auf Demos wie auch überall sonst.


Antifaschistische Worte sind toll und wichtig, aber ohne antifaschistische Taten sind sie wertlos.


Weronika


P.S.: Die Amadeu-Antonio-Stiftung setzt sich gegen Diskriminierung ein. Schaut gerne bei ihnen vorbei!

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

2 comentários


odyss12
vor 6 Tagen

Ich habe den Blog gerade erst entdeckt. Und freue mich sehr, dass hier auch unbequeme Themen sachlich und doch leidenschaftlich behandelt werden. Der Aufforderung, raus aus den eigenen Blasen zu gehen, stimme ich unbedingt zu, obwohl ihr ja selbst innerhalb der eigenen Blase auf widersprüchliches Verhalten und wenig entwickelte Selbstkritik stoßt. Allmählich halte ich die Gefahr, die aus der sogenannten schweigenden Mitte oder Mehrheit stammt für mindestens so groß, wenn nicht größer als die von der extremen Rechten. Da weiß ich, woran ich bin. Aber der so oft erlebte mangelnde Arsch in der Hose, im Alltag Menschen auf rassistisches Verhalten (oder Sprache) anzusprechen, zu intervenieren, ohne sich automatisch über andere zu überheben, frustriert.

Curtir
Respondendo a

Vielen Dank für deine Unterstützung und lieben Worte, wir freuen uns sehr darüber. Und ja, mit dem, was du schreibst, sprichst du definitiv einen wichtigen Punkt an. Gerade in der aktuellen Zeit kommt es darauf an, Dinge nicht einfach "mitzutragen". Im Endeffekt ist es genau die "schweigende Mitte", die problematische politische Entwicklungen erst möglich macht - und das fängt eben im Alltag an.

Curtir
bottom of page